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Subheadline: Professor Martin Engelhardt vom Klinikum Osnabrück: Kinder bewegen sich viel zu wenig
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03.08.2017

(03.08.2017) Vor dramatischen Folgen des Bewegungsmangels bei Kindern warnt der ärztliche Direktor des Klinikums Osnabrück, Professor Martin Engelhardt, im Interview. Er hat 2010 die Idee des Projekts Kinder-Bewegungsstadt (KiBS) entwickelt. Von Sandra Dorn

Es ist jetzt 14.35 Uhr. Wie viel haben Sie sich heute schon bewegt?

Viel zu wenig. Und das, obwohl wir hier im Krankenhaus lange Wege haben. Dadurch, dass ich mehrfach zum OP und zur Station muss, habe ich schon eine relativ große Gehstrecke.

Und das reicht nicht?

Das reicht natürlich nicht. Man sollte sich am Tag als berufstätiger Erwachsener schon mindestens eine halbe bis eine Stunde körperlich anstrengend bewegen, das wäre ideal.

Beim KiBS-Projekt haben Sie als Ziel ausgegeben, dass sich Kinder sogar zwei Stunden täglich intensiv bewegen sollen. Ist das machbar?

Für Kinder sollte das absolut machbar sein. Früher haben die Kinder doch sehr viel mehr in der Natur gespielt und sich bewegt. Aber die heutige Realität sieht natürlich ganz anders aus.

Warum?

Na ja, das liegt am geänderten Werte- und Sozialverhalten. Wir sind damals in die Grundschule zu Fuß gegangen und in die höhere Schule oder ins Gymnasium mit dem Fahrrad gefahren. Heute ist das eher die Seltenheit. Die Kinder werden mit dem Auto bis unmittelbar vors Klassenzimmer gefahren. Und dann gibt es noch die ganzen Medien: Die Kinder hängen permanent vor dem Bildschirm. Man muss sie animieren rauszugehen. Aber von vielen im Elternhaus wird das nicht mehr vorgelebt.

Wann hat diese Entwicklung angefangen?

Ich glaube, das ist ein schleichender Prozess. 1905 waren es noch 20 Kilometer, die sich der Deutsche im Schnitt pro Tag bewegt hat, 1950 zehn Kilometer und jetzt sind es statistisch gesehen 680 Meter pro Tag. Und das ist natürlich schon verheerend.

Und die Folgen haben Sie dann auf dem OP-Tisch liegen.

Nicht nur auf dem OP-Tisch. Wenn Kinder sich nicht bewegen, dann haben sie auch eine gestörte geistige und seelische Entwicklung. Auch das Selbstbewusstsein der Kinder leidet extrem, wenn sie irgendwann merken, dass sie unbeweglich sind, nichts leisten können oder einfach nicht gelernt haben, mit Niederlagen umzugehen, sich einzuordnen, mit anderen Kompromisse zu schließen. All diese Dinge werden einem beim Sporttreiben in der Gemeinschaft beigebracht.

Die Kinderbewegungsstadt Osnabrück war Ihre Idee, was war der Auslöser?

Der Hauptauslöser war, dass mir hier aufgefallen ist, dass die Patienten zunehmend übergewichtiger und dicker werden und wir jede Woche mindestens bei einem Patienten einen Schwerlasttisch – das heißt Patienten über 140 Kilo – benötigt haben. Wir werden unser Gesundheitssystem, das wir alle sehr schätzen, nicht halten können durch die Kosten, die dadurch entstehen. Ich habe mein ganzes Leben lang Sport getrieben, bin engagiert in Vereinen und Verbänden, und von daher lag mir am Herzen, dass man in dieser Richtung aktiv wird, und zwar schon in den jüngsten Jahrgängen.

Und da geschieht in Deutschland zu wenig?

In Großbritannien läuft es besser. Da gibt es eine Sportministerin und ein nationales Sportkonzept. Da werden zum Beispiel Millionen investiert, damit alle Kinder Radfahren lernen. Wir in Deutschland schlafen vor uns hin. Wir geben lieber Milliarden in die Reparatur.

Es gibt auch Kinder, die mit Sport absolut nichts anfangen können…

Ich glaube, es bringt nichts, ein Kind dazu zu zwingen, irgendetwas Spezielles zu machen. Es muss Spaß machen. Das gelingt am besten mit mehreren zusammen. Es gibt so vielfältige Angebote heutzutage. Es ist auch zu empfehlen, dass man sich bei einem Kind nicht auf eine einzige Sportart fokussiert, sondern ein breites sportmotorisches Ausbildungsprogramm für ein Kind anbietet.

Das klingt wie eine Anleitung für Akademikereltern. Wie erreichen Sie die anderen?

Auch da hängt es davon ab, was mit den Eltern los ist. In einer klassischen Arbeiterfamilie gibt es durchaus welche, die sportbegeistert sind. Es ist aber auch so, dass es in der reichen Bundesrepublik nicht nur Reiche gibt, sondern auch einen nicht unerheblichen Anteil von Familien, die nicht unbedingt viele finanzielle Mittel haben und sich das Sporttreiben teilweise nicht leisten können. Der Umstand, dass immer weniger Kinder schwimmen können, liegt nicht nur allein daran, dass die keinen Sport mehr treiben wollen, sondern dass es einfach wahnsinnig teuer ist, diese ganzen Schwimmkurse zu bezahlen. Deshalb machen wir ja auch bei KiBS kostenlose Angebote gerade für Familien, die sich das nicht so leisten können.

Wie schätzen Sie die Aussichten ein, mit KiBS über Osnabrück hinaus etwas zu bewegen?

Na ja, wir sind ja nicht irgendwelche Fantasten. Aber natürlich hat es einen Einfluss, wenn wir mit solchen Aktivitäten der Kinderbewegungsstadt von unten anfangen, andere Kommunen haben schon Interesse an dem Konzept gezeigt. Vielleicht gelingt es ja mal, dass ein Boris Pistorius Bundesinnenminister wird, dann haben wir eine Chance, mit so einem Projekt vielleicht auf Bundesebene erfolgreich zu sein. Wir müssen das Gesundheitssystem davor bewahren, dass es kollabiert.

Martin Engelhardt ist Chefarzt für Orthopädie und Unfallchirurgie am Klinikum Osnabrück und selbst seit seiner Jugend begeisterter Sportler. Foto: Jörn Martens

Quelle: Neue Osnabrücker Zeitung vom 03.08.2017






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